Forum: Gesundheit - „Mythos Krebsdiät“, „Plötzlich wird’s wichtig“, Gentechnik und andere Grundfragen
Eine kleine Anmerkung, um Missverständnisse zu vermeiden: Ich weiß, man erwartet ständig Botschaften, Handlungsanweisungen, klare Ansagen. Es ging mir aber gerade nicht um funktionalistisches, angepasstes Denken. Hinter die Begriffe Effizienz, Effektivität und Wahrheit kann ich in diesem Zusammenhang nur dicke Fragezeichen setzen. Vor allem hinter „Wahrheit“, den wohl schillerndsten, schwierigsten Begriff überhaupt. Und auch hinter „Polemik“, ein anderes Wort für ideologisches Lagerdenken. Mir geht es um Tatsachenfeststellungen (Erkenntnis, sicherlich subjektiv) im Zusammenhang der großen Themen des Lebens, orientiert an Menschen, die offenkundig bereits mehr verstanden als wir. Weder leugne ich Funktionserfordernisse, noch verteufle ich Systeme (Ordnungen). Natürlich muss die eigene Existenz irgendwie auf den Punkt gebracht werden. Konsequenz und Disziplin sind nach meiner Erfahrung durchaus freudvolle Begriffe, pure Motivation, solange sie unter dem Anspruch besten Wissens und bester Erkenntnis stehen. Praxis allein wäre ohnehin unmöglich, und sie ist in ihrer kurzschlüssigen Form absolut gefährlich. Luhmann war ein Systemtheoretiker ersten Ranges; Apologet war er nicht. Rilke ist in seinen Elegien gerade nicht auf das Ziel losgeschossen, sondern umkreist das Thema tentativ, dialektisch, repetitiv, eigentlich ein Leben lang. Insofern bleibt er jedoch immer ein Fremder im Leben, ähnlich wie Kafka oder Melvilles Bartleby. Weltschmerz ist Stressreaktion. Wo bleibt die positive, selbstbewusste Aktion? Zur Veranschaulichung der Qualität unseres öffentlichen Diskurses nehme ich einfach einmal eine Schlagzeile, die mir im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt soeben ins Auge springt: „Menschen mit Bildung töten mit Raketen“. Ein simpler Aussagesatz, der tief blicken lässt.
Das ist eines der Huna-Prinzipien.
Als Maß der Wahrheit eher Effektivität. "Das Richtige tun." Wenn dann noch effizient, umso besser. "Das Richtige richtig tun." Ich fand Michaelas kurzen Kommentar wohltuend nachdem ich mich mühsam durch einen polemischen Beitrag gelesen hab u am Ende nicht wirklich wusste, was ich damit anfangen soll Hier liegt die Effizienz wohl im Auge des Betrachters.
Effektivität ist das Maß der Wahrheit.
Ein paar weitere, ganz unmaßgebliche Betrachtungen: Eure Kommentare kann ich nur unterstreichen. Wichtig vor allem: nicht missionieren. Allein der Gedanke ist monströs und widerwärtig – unterbelichtete, unentwickelte Individuen mit Dominanzansprüchen und Raumforderungen. Ein A. von Humboldt wiegt jedoch tausend Napoleons auf. Bildung ist das genaue Gegenteil von Mission, insbesondere in ihrer Ausprägung Philosophie, speziell Hermeneutik. In die Praxis übersetzt heißt die (gar nicht zu umgehende!) Forderung: Vorbild sein. Der bisherige Zivilisationsprozess ist eine bittere Erfahrung, wenn man harte Maßstabe anlegt. Aber das ist Analyse und muss sich nicht, darf sich nicht in sinnlose Kämpfe und persönliche Frustration übersetzen. Jeder Mensch braucht Gemeinschaft, emotional und geistig, aber daran ist prinzipiell doch gar kein Mangel. Wer die andere, positive Welt mit ihren Möglichkeiten und Horizonten kennt, wird die Dumpfheit und Stumpfheit der Masse nicht nur nicht vermissen, sondern wird froh sein, ihr entronnen zu sein. Das ist zumindest mein ganz persönliches Empfinden. Ich denke an Hesses Steppenwolf und den Geruch der gewachsten und gebohnerten Stiege des Kleinbürgerheims. Heimelig vielleicht, Heimat ist es nicht und wird es nie sein. Die Literatur bietet einen einzigartigen Zugang zum Leben, zu den Menschen. Da wird alles beispielhaft abgehandelt. Man lernt viele Leben kennen, in allen Facetten, und hat so die Chance, die eigene Existenz besser glücken zu lassen. Mehr geht nicht, in so kurzer Zeit. Doch die eigene Entwicklung ist außerordentlich spannend – und wiederum exemplarisch im Großen. Dass dumme Menschen zufriedener seien, glaube ich schon lange nicht mehr. Ihr Lebensgefühl reicht ja nur von Totstellen bis zu den sprichwörtlichen kleinen Freuden. Das Schlimmste am Umgang mit ihnen ist, dass sie erkennbar mit sich selbst nicht zu Rande kommen. Nie genug, nie zufrieden, nie beseelt, nie souverän, nie konsequent, nie treu. Und schon gar nicht gesund. Eigentlich unerträglich. Glück ist das auf keinen Fall. Man darf auch behaupten, dass Literatur im engeren Sinn einen abnehmenden Grenznutzen hat, Philosophie hingegen eher nicht. Man braucht ja nicht alle Bücher eines Martin Walser gelesen zu haben, um zu verstehen, dass hier der menschliche Mangel (um nicht zu sagen: Makel) in allen Formen durchdekliniert wird. Man spürt diese Realität doch sowieso jeden Tag. Strenggenommen genügt von Walser das kleine Bändchen „Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe“ (1971). Nach 57 großzügig bedruckten Seiten ist man bestens informiert, sodenn es dieser Information noch bedarf. Ein faszinierendes Werk ist demgegenüber R. Vollmanns „Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer 1800 bis 1930“. Das Wichtigste im Leben ist, so scheint mir, das Beharren auf der eigenen Positivität. Also nicht nur Theorie, sondern Praxis. Nicht Lenin, sondern Ghandi. Ich will noch kurz ein klassisches Beispiel anführen: Goethe, eine Verkörperung des Glücks. Für ihn war die Welt positiv, weil er es so wollte (und konnte), indem er sich beschränkte. Safranski und Muschg zum Beispiel beschreiben sehr erhellend, warum das so war und welch großen Nutzen wir davon haben. Freilich hat Goethe unbestreitbar einen hohen Preis dafür bezahlt: Horizontverengung. Arno Schmidt, ein „Gehirntier“ sondergleichen (Schriftsteller, Übersetzer und leidenschaftlich logarithmierender Mathematiker), hat ihm nachvollziehbar den Prozess gemacht („Wundertüte. Eine Sammlung fiktiver Briefe“). Für fundamentale Probleme des Seins habe er sich überhaupt nicht interessiert; habe philosophisch viel zu früh resigniert, um sich umso „beruhigter dem vollen tüchtigen Leben widmen zu können“; habe sich mit Schein und „Wunschirrtümern“ zufrieden gegeben. Astronomie sei ihm unerträglich gewesen, und Mathematik „war auch so eine böse Lücke“. „Daß er zu glücklich war, das ist sein persönliches Pech, welches ihn menschlich verhätschelte, und so für die Nachwelt deklassierte; er kennt nur einen Teil des Lebens und der Welt, und zwar den kleineren: deswegen hat er der Mehrzahl der Menschen – Uns – wenig zu sagen! Klingt hart, wie?!“ Ja, ist harter Tobak und natürlich einseitig beleuchtet. Aber wahre Aussagen zeichnen sich dadurch aus, dass auch ihr Gegenteil stimmt (die Antithese ist logisch impliziert). Goethe leugnete den Tod (er wollte ihn nicht „statuieren“), um selber leben zu können – ein Trick, ein „Kunstgriff, viel Leben zu haben“, wie Muschg schreibt. Worauf ich hinaus will: Wir alle brauchen einen Trick, um uns durch die Fehlentwicklungen und Verflachungen des Lebens nicht beirren und sinnlos belasten zu lassen. Teilhabe ja, aber nicht auf Kosten der Individualität und des eigenen Lebens. Genau hier kommt ja, im Rahmen der Trias, der Pfeiler „Denken“ (Meditation, Konzentration, Achtsamkeit) ins Spiel. Wir sollten begreifen, dass wir Heutige erstmals über Möglichkeiten verfügen, gerade auch individuell, um Leid oder gar „Urleid“ neu zu definieren (zu „re-signieren“) und ein besseres Leben zu entwickeln. Mitleid allein kann es nicht sein. Es würde niemandem nützen. Ein Füllhorn des Geistes sind zum Beispiel die Aphorismen von Schopenhauer und – natürlich – Nietzsche. Schopenhauer: „Wer unter Menschen zu leben hat, darf keine Individualität unbedingt verwerfen. Hält er es anders, so tut er Unrecht und fordert die anderen heraus zum Krieg auf Tod und Leben.“ Ich bin der Auffassung, dass Individualisierung Natur- und Lebenszweck an sich ist, quasi genetisch bedingt durch den Luxus der Zerebralisierung. Warum sonst sollte sich der Mensch (der „Welt“ hat) vom Tier unterscheiden, das nur „Umwelt“ hat? Die gesellschaftliche Organisationsform, die Gruppe, ist lediglich ein Mittel im Sinne der Überlebenssicherung, als Bedingung der Möglichkeit. Die Ziele sind andere (höhere, geistige). Die Triebkraft ist das Individuum, nicht die Gruppe. Das beweist die Geschichte und im Besonderen die Anthropologie. Gibt es Gegenbeweise zu dieser These? Ich finde keine. Insofern ist Pessimismus ein Kurzschluss, auch wenn man zugeben muss, dass die Gattung das Format und inzwischen auch die Potenz hat, sich selber auszulöschen. Dann war dieser Versuch der Natur ein grandioses Fehlunternehmen. Kann schon sein. Aber ist es wahrscheinlich?
Wow und bravo, Ihr Beitrag hat mich gepackt. Stimmt mit meiner „gegenwärtigen“ Sichtweise überein. Insbesondere, dass wir mit uns selbst alles andere als identisch sind, Außenwelt/ Verstandeswelt und die Innenwelt/Sein-Bewusstsein. Frei nach E. Tolle und anderen „sind“ wir (einfach) und sollten gegenwärtig entscheiden, welche Wege/Lebensstile wir „jetzt“ wählen; nicht rückwirkend aber auch nicht zukünftig. Danke dafür!
Große Zweifel, unheilbare Verwirrung. Konsequenz unseres zersplitterten, fremdbestimmten, pseudofreiheitlichen Denkens. Meinungsbildung auf Basis einer sinnentleerten Faktenhuberei. Addition inkompatibler Positionen, ohne Chance zum Integral. Da ein Theschen, dort ein Theschen; da eine Meinung, dort eine Meinung; da ein Ratschlag, dort ein Ratschlag; da ein Irritatiönchen, dort ein Irritatiönchen. So findet heute Denken statt. Die psychischen Konsequenzen dieser Vorstellungswelten können nicht beglücken. Und wenn’s dann eng wird, d. h.: einen selbst betrifft, holt man – professionell, professionell – die Zweit- oder Drittmeinung von „anerkannten“ Experten ein. Nach Lage der Dinge die garantiert beste Methode, das erwünschte Ziel zu verfehlen. Dümmer geht’s nümmer. Hauptgrund ist zunächst ein elementarer Denkfehler: Man befasst sich, angestachelt durch die Reize von außen, ausschließlich mit der Objektwelt und dem Leben anderer. Dass man selbst integraler Teil des ganzen Prozesses ist, und zwar mit allen Konsequenzen, wird geflissentlich übersehen. Dabei sind wir mit uns selbst alles andere als identisch. Unser Bewusstsein – das Selbstbewusstsein – hat zwei Seiten, die Außenwelt und die Innenwelt. Der Zugang zu und die Reflexion über sich selbst ist zweifellos der schwierigere Part. Schopenhauer hat das gezeigt und damit die klassische Subjektphilosophie vollendet. Adorno etwa hat, als Epigone, den Fehler begangen, in seiner „negativen Dialektik“ (es gebe kein richtiges Leben im falschen) in der Gegenposition zu verharren. Was tun, wenn die historische und aktuelle Analyse unserer Lebenswirklichkeit(en) zu enttäuschenden Ergebnissen führt? Der erste und ganz intuitive Schritt lautet natürlich: Es anders machen. Auf Negativität mit Negation antworten. Heute werden wir täglich mit Statistiken jeder Art konfrontiert. Eine davon besagt, dass 27 Millionen Deutsche an Krebs leiden und sterben werden. Gleichzeitig wird auf allen Kanälen publiziert und demonstriert, wie das Volk lebt und denkt. Wer von den Konsequenzen solcher Lebensstile verschont bleiben will, braucht nur couragiert nein zu sagen und es anders zu machen. Weglassen hilft schon mal. Wer sich hingegen nicht als „Ausreißer“ der Statistik (psychologisch: Außenseiter!) definiert, sich nicht separiert, sondern sich im statistischen Mittelbereich bewegt, sollte auch wissen, was zu erwarten ist. In der Praxis ist Absonderung leider schwer, denn der Sog des „Systems“ (und wir haben es mit pervertierten, aus den Angeln gehobenen Systemen und Subsystemen zu tun) ist gewaltig. Reflexivität müsste gelernt und geübt werden, doch eben dies weiß das System zu verhindern. Noch weit schwieriger ist der notwendige zweite Schritt: die Enwicklung eines fundierten eigenständigen Denkens und vernünftigen, sinnhaften Lebens. Im Unterschied zu Adorno hat Heidegger das begriffen wie kein Zweiter: Wir müssen das Leben führen und können es nicht nicht führen. Die Frage ist allein, ob man lebt oder ob man gelebt wird. Der Anspruch kann nur lauten: Wissen, lernen, umsetzen. Die Welt verstehen und sich selbst. Klugheit und Urteilsfähigkeit erwerben. Stringenz und Konsequenz entwickeln. Werte (Orientierungen) erkunden, setzen, überprüfen und leben. Umorientieren, wenn sich Überzeugungen nicht bewähren, hier und jetzt im Leben. Dies ist die einzige Sicherheit, die es gibt. Mehr braucht es aber auch nicht. All dies ist mit dem heute verpönten und provokanten Begriff „Bildung“ gemeint. Natürlich ist dieser Weg ein wenig anstrengend. Aber er ist ungemein beglückend. Und erfolgreich ist er überdies, das steht fest. Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Die Gattung hat in den letzten 2000 Jahren in Gestalt einzelner Individuen Höhen erreicht. Es gibt Gewährsleute. Freilich muss man sich anhand eigener systematischer Studien und entschlossener Lebensführung erst einmal in die Lage versetzen, dies beurteilen zu können. Aber dann wird manches sehr klar und durchaus einfach, psychisch wie intellektuell. Kleines Beispiel: Warum streitet man sich nach Leibniz und Kant eigentlich noch über die Gottesfrage (sodenn man sie sich überhaupt noch stellt in unseren super aufgeklärten Zeiten)? Und hat nicht Gadamer die potenziellen „Gottesbeweise“ auf ein paar Seiten noch einmal zusammenfassend beleuchtet? Überhaupt Leibniz: Er kann als das einzige Universalgenie der Moderne gelten, unkopierbar, unerreicht, auch daran erkennbar, dass sein Werk nach 300 Jahren nur zu einem Bruchteil erschlossen ist. Umfassende Bildung – geht uns das heute wirklich nichts mehr an? Ist das die reine Zumutung? Spezialistentum, die Folge unserer arbeitsteiligen Wirtschafts- und Gesellschaftsorganisation, ist gefährlich, wenn das Korrektiv fehlt. Es gilt noch immer Goethes Vers aus dem Buch des Unmuts (West-östlicher Divan): Wer nicht von dreitausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben. Wir sollten uns das hinter die Ohren schreiben, um sinnloses Leid zu vermeiden und Sinnhaftigkeit zu gewinnen. Wie gesagt, es gibt Gewährsmänner, auch heute, im Dschungel der Meinungen, man muss das nur richtig sortieren können. Dr. Strunz ist so einer, ein Aufklärer im besten Sinn, auf einem schwierigen Gebiet, das über Wohl und Wehe entscheidet. Soviel für den Moment.