Die Wunderpille gegen Stress
Ich messe seit vielen Jahren den Stress meiner Patienten. Auch wenn sie oft behaupten, dass sie gar nicht gestresst seien. Die Laborwerte zeigen mir oft ein anderes Bild.
Ich messe den Cortisolspiegel morgens früh im Blut und seinen Verlauf anhand von mehreren Speichelproben im Laufe des Tages. Der Cortisolspiegel folgt einem zirkadianen Rhythmus mit dem höchsten Wert am frühen Morgen gegen 8 Uhr und einer kontinuierlichen Abnahme im Laufe des Tages. Gegen Abend erreicht er den tiefsten Tageswert als Vorbereitung für die Nacht. Im Laufe von 24 Stunden ist der Cortisolspiegel zwischen 0 Uhr und 4 Uhr morgens am niedrigsten. Ab 4 Uhr steigt er wieder an, um den Aufwachprozess einzuleiten. Bei vielen meiner Patienten messe ich allerdings hohe abendliche Cortisolspiegel.
Dieser macht auf Dauer eine Reihe gravierender Probleme:
- Einschlafstörungen: Der Körper bleibt in einem aktiven Zustand, was das Einschlafen erschwert.
- Durchschlafprobleme: Ein erhöhter Cortisolspiegel kann zu häufigem Aufwachen führen. Das kenne Sie alle, dass Sie in Stressphasen häufig aufwachen und schlecht wieder einschlafen können.
- Verkürzung der Tiefschlafphasen: Diese wichtigen Erholungsphasen können durch hohe Cortisolspiegel stark beeinträchtigt werden.
Es wundert nicht, dass Wissenschaftler kürzlich herausgefunden haben, dass Menschen mit solch einer veränderten abendlichen Ausschüttung von Cortisol ein erhöhtes Risiko aufweisen, Jahre später an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu versterben.
Erhöhte Cortisolspiegel steigern zudem den Appetit, vor allem auf fett- und zuckerreiche Lebensmittel („Nervennahrung“). Dies kann zu einer erhöhten Kalorienaufnahme führen, die wiederum die Gewichtszunahme begünstigt. Ungünstigerweise erhöht es auch den Blutzucker- und Insulinspiegel, was die Fetteinlagerung, insbesondere von viszeralem Bauchfett, zusätzlich bringt Cortisol im Dauerhoch unseren Hormonhaushalt durcheinander: Testosteron und Progesteron sinken. Libidoverlust und Zyklusstörungen sind häufige Folgen.
„Ich brauche dringend eine Wunderpille gegen meinen Stress!“, sagte mir eine sichtlich betroffene Patientin, der ich ihre Cortisolwerte erläuterte.
„Dieses Cortisol bringt mich langfristig um. Da gibt es doch sicherlich ein Medikament gegen!? Gerne auch etwas natürliches.“
Tatsächlich gibt es seit einigen Jahren ein Medikament, das die Cortisolproduktion in der Nebenniere hemmt. Es wurde im Jahre 2020 zugelassen, allerdings nur für die Behandlung des Cushing-Syndroms bei Erwachsenen. Also für eine schwere Stoffwechselerkrankung mit exorbitant hohen Cortisolspiegeln. Die Nebenwirkungen dieser Pille sind beachtlich: Starke Erschöpfung, Übelkeit, Schwindel, Hypotonie, Kopfschmerzen, Ödeme, etc.. In Fällen eines Cushing-Syndroms ist das Medikament richtig und wichtig.
Bei stressbedingten hohen Cortisolspiegeln muss jedoch unbedingt die Lebensführung und der Lebensstil überdacht und am besten schnell geändert werden.
Ich verordne in solchen Fällen bewusst kein orales pflanzliches oder homöopathisches Präparat, da es nach meiner Erfahrung allein genommen nicht viel bringt.
Viel effektiver sind Meditation und Achtsamkeitsübungen.
Das haben auch WissenschaftlerInnen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften sowie der Forschungsgruppe Soziale Neurowissenschaften der Max-Planck-Gesellschaft herausgefunden. Sie haben bei über 300 Personen die Stressbelastung gemessen, und zwar anhand der Cortisolmenge im Haar. Diese gibt – ähnlich wie wiederholte Messungen im Blut oder Speichel - Auskunft darüber, wie stark eine Person durch anhaltenden Stress belastet ist. Die Teilnehmer absolvierten für neun Monate ein tägliches Programm mit Meditation und Achtsamkeitsübungen. Sowohl der persönlich empfundene Stress als auch der messbare Stress in der Haarprobe waren in dieser Zeit rückläufig. Die Studie erbrachte damit erstmals einen objektiven Beleg dafür, dass mentales Training den Cortisolspiegel senken kann.
Quellen:
Puhlmann LMC, Vrtička P, Linz R, Stalder T, Kirschbaum C, Engert V, Singer T. Contemplative Mental Training Reduces Hair Glucocorticoid Levels in a Randomized Clinical Trial. Psychosom Med. 2021 Oct 1;83(8):894-905. doi: 10.1097/PSY.0000000000000970. PMID: 34259441; PMCID: PMC8505163.
Sebastian Karl, Hamimatunnisa Johar, Karl-Heinz Ladwig, Annette Peters, Florian Lederbogen: Dysregulated diurnal cortisol patterns are associated with cardiovascular mortality: Findings from the KORA-F3 study, Psychoneuroendocrinology. 2022 Mar 30;141:105753. DOI: 10.1016/j.psyneuen.2022.105753.
Erceg N, Micic M, Forouzan E, Knezevic NN. The Role of Cortisol and Dehydroepiandrosterone in Obesity, Pain, and Aging. Diseases. 2025 Feb 1;13(2):42. doi: 10.3390/diseases13020042. PMID: 39997049.
Über die Autorin:
"Kyra Kauffmann, Jahrgang 1971, Mutter zweier kleiner Söhne, Volkswirtin, seit 20 Jahren niedergelassene Heilpraktikerin, Buchautorin, Dozentin, Journalistin und seit 3 Jahren begeisterte Medizinstudentin.
Zur Medizin kam ich durch meine eigene schwere Erkrankung mit Anfang 30, bei der mir seinerzeit kein Arzt wirklich helfen konnte. („Ihre Werte sind alle super – es ist alles rein psychisch!“). Hilfe bekam ich von Heilpraktikern, die zunächst einmal eine wirklich gründliche Labordiagnostik durchgeführt haben, ganz nach dem Vorbild von Dr. Ulrich Strunz. Es war eine neue Welt, die sich mir eröffnete und die Erkenntnisse, haben mich sofort fasziniert (ohnehin bin ich ein Zahlen-Daten-Fakten-Fan und habe nicht umsonst das Studium der VWL gewählt). Die Begeisterung war so groß, dass ich meinen alten Beruf an den Nagel hängte und Heilpraktikerin wurde. Meine Praxis führe ich seit 20 Jahren mit großer Begeisterung und bin – natürlich - auf Labordiagnostik spezialisiert und kann so oft vielen Symptomen auf den Grund gehen. In 2 Jahren hoffentlich dann auch als Ärztin.