Gedanken zum ADHS
Alles schon einmal da gewesen. Schon vor mehr als 150 Jahren lasen wir im „Struwwelpeter“ Geschichten über den "Zappel-Philipp" und über "Hanns-Guck-in-die-Luft". Auch der wütende Friederich passt in das heutige ADHS-Bild. Nur:
Diese Störung hat in den letzten 20 Jahren in atemberaubendem Tempo zugenommen: präzise: um den Faktor 75 in nur 16 Jahren. Weshalb?
Tja. Fragen wir doch die Kinder- und Jugendmediziner. Auch die haben eine Leitlinie. Und diese Leitlinie (erinnern Sie sich an die DGE, an Prof. Hauner? (News vom 26.2.2014, www.drstrunz.de) legt doch wirklich offiziell fest, dass bis zu 80% des ADHS-Erscheinungsbildes genetisch bestimmt sei. Dass also Gene schuld seien.
Eine vorzügliche Erklärung. Heißt nämlich praktisch: kann man nix machen. Ist halt so. Bleibt nur die Tablette. Ritalin. Da passt wieder einmal eine Leitlinie prima zur Pharmaindustrie. Zufall?
Dabei genügen doch 10 Sekunden nachdenken, um zu erkennen, dass die Leitlinie falsch sein muss: es gibt kein Gen, das sich in 16 Jahren dramatisch verändert. Genveränderungen dauern 10.000 Jahre oder noch viel länger.
ADHS – ich weiß, ich bin nicht betroffen – sehe ich, Sie ahnen es, völlig anders. Kommen Sie in Gedanken einfach mit zu unseren Vorfahren: die Gruppen, die besonders impulsive, schnell reagierende und teilweise aggressive Mitglieder hatten (also ADHS) – und damit besonders gutes Scouts, Anführer und Kämpfer - , konnten besonders gut weite Strecken in unbekanntem Gebiet zurücklegen. Heißt übersetzt: ADHS war damals, bei den wandernden Jägern und Sammlern ein Riesenvorteil.
Bloß eben heute nicht. Heute wird sitzen geblieben. Und da passen uns die ADHS-Exemplare gar nicht mehr in unser Weltbild. Konkret, ausführlich und wissenschaftlich lesen wir bei Dr. Sabine Paul, Evolutionsbiologin im Büchlein „Paläopower“ folgende wunderhübsche Zusammenfassung:
Evolutionsbiologisch gesehen stellt eine genetische Veranlagung zu impulsivem Verhalten, schneller Reizaufnahme und einer schnell wechselnden Aufmerksamkeit keine genetische Störung dar. Vielmehr ist dies ein genetischer Vorteil und ein sinnvolles Verhalten – in einer schnell wechselnden, eher bedrohlichen Umgebung. Man kann daher eher sagen, dass eine Umweltstörung vorliegt, denn die genetische Ausstattung stellt in Jäger- und-Sammler-Gruppen kein Problem dar. Die heute als nachteilig empfundenen ADHS-Symptome sind das Produkt der modernen Umwelt, die nicht zu dieser genetischen Ausstattung passt, wie Schulunterricht mit stundenlangem Sitzen – oder enge, lärmempfindliche Wohnungen. Evolutionsbiologisch spricht man bei einer solchen Konstellation von einer Fehlanpassung von Genen und Umwelt.
Da passt also seit 16 Jahren zunehmend etwas nicht mehr zusammen. Und wenn etwas zunehmend stört, haben wir – wir Mediziner – probate Mittel: die Pille. Wenn Sie Sorgen haben und nicht schlafen können: die Schlaftablette. Wenn Sie Stress haben und hohen Blutdruck: die Blutdrucktablette. Wenn Sie ADHS haben: Ritalin.
Dass wir uns recht verstehen: Pillen haben akut, kurzfristig, für kurze Zeit sehr wohl Ihre Berechtigung. Bevor die wirkliche Therapie, nämlich Epigenetik, greift.