Lebendigkeit
wie sie uns jedes Kind so anschaulich vorführt, ist keine Selbstverständlichkeit. Auch wenn wir das „einfach so“ annehmen: Ich gucke mir sehr wach Alterskollegen an. Häufig beschreibbar durch „langsam, leicht gebeugt, fehlende Mimik“. Lebendigkeit? Ich weiß nicht, ich weiß nicht… Schon Max Weber schrieb 1905, dass „mechanisierte Versteinerung“ unserem Zeitalter drohe. Der meinte das gesellschaftlich-soziologisch. Mein Blickwinkel ist eher das Leben selbst, die Physiologie. Und da finde ich Gefallen an ein paar glänzend formulierten Einsichten des Soziologen Hartmut Rosa (Jena/Erfurt). Der da meint:
- Lebendigkeit ist ein Austauschverhältnis. Lebendig sein kann man nicht für sich alleine, sondern nur in Beziehung…
Eleganterweise weitet er den Begriff aus. Eröffnet uns auch andere Möglichkeiten:
- Das andere muss aber kein Mensch sein, es kann auch ein Tier, ein Wald, ein Buch oder ein Lied sein…
Freilich stellt er da eine Bedingung: Sich einfach eines Tieres zu bedienen (Zugpferd) genügt nicht. Das stiftet noch keine Lebendigkeit. Lebendig werde ich erst, wenn
- das andere da draußen mit mir so in Beziehung tritt, dass ich durch diese Beziehung selbst verändert werde
Rosa spricht hier ausdrücklich von Resonanzen. Von einem „in einem Antwortverhältnis zum Leben zu stehen“.
So weit so gut. Hätte ich Ihnen nicht erzählt, wenn Rosa nicht einen typischen Gesellschaftsentwurf in seinem Herzen trüge. So wie jeder von uns. Auch ich. Er meint nämlich, dass
- Eine Gesellschaftsform, die die unablässige Akkumulation und Optimierung von sozialen, ökonomischen, kulturellen…Ressourcen fordert,…führt zu mechanisierter Versteinerung.
Heißt übersetzt: Unsere auf Wirtschaftswachstum ausgerichtete Gesellschaftsform führt ins Leere. Laut Rosa.
Die übliche Anmerkung: Dafür scheint Rosa in dieser von ihm abgelehnten Gesellschaftsform ganz anständig zu leben, wenn ich sein Foto betrachte. Und an seine wahrscheinliche Beamten-Position an der Uni denke. Nenne ich fehlende Authentizität. Sie verstehen mich.
Jetzt kommt`s: Weil Rosa nun einmal diesen Glaubenssatz verinnerlicht hat, kann er doch tatsächlich den folgenden Gedanken prägen:
- „Wer sein Leben systematisch darauf anlegt, seine Weltreichweite zu vergrößern – mehr Wissen, bessere Kontakte, einen leistungsfähigeren und attraktiveren Körper, ein höheres Einkommen zu haben – verliert Stück für Stück seine Lebendigkeit…“
Also, darauf wäre ich nicht gekommen. Wer seinen Körper fitter, leistungsfähiger, also gesünder macht verliert seine Lebendigkeit?
Meine Sicht: Da hat sich jemand verrannt. Weil er unseren Gesellschaftsentwurf ablehnt, rutscht er zwangsläufig in eine gar merkwürdige Weltsicht: Bitte erwerben Sie nicht mehr Wissen! Bitte pflegen Sie keine Kontakte! Bitte streben Sie nicht nach höherem Einkommen! Trainieren Sie um Gottes Willen nicht für einen leistungsfähigeren Körper…Sie würden sonst versteinern. Da bleibt mir nur Loriot: „Ich weiß nicht, Herr Doktor, ich weiß nicht…“
Quelle: DIE ZEIT 14, 1.4.2015, Seite 30