Es gibt Mikronährstoffe, die zwar in den Elfenbeintürmen der Wissenschaftler schon lange bekannt und gut erforscht sind, aber von Medizinern nicht ausreichend beachtet werden. Zu diesen gehört z. B. das Spurenelement Jod, über das ich bereits mehrfach an dieser Stelle geschrieben habe. Eine ähnlich tragische Rolle spielt das Inositol. Dieser Stoff hat so viele lebensnotwendige Funktionen im menschlichen Organismus, dass ein Mangel zwangsläufig zu starken Beeinträchtigungen führt. Und dennoch hat es kaum ein Arzt oder Heilpraktiker auf dem Schirm.

Bekannt ist Inositol bereits seit dem Jahr 1850. Damals isolierte der Chemiker Johann von Scherer eine neue Substanz aus Muskelgewebe und beschrieb sie sehr ausführlich in der Fachzeitung „Annalen für Chemie und Pharmazie“. Er schrieb: „Ich schlage für diesen Körper nach seinem Fundorte den Namen Inosit vor“, abgeleitet von Inos, im Griechischen „des Muskels“.

Für die nächsten 100 Jahre geriet von Scherers Entdeckung allerdings komplett in Vergessenheit. Erst in den 1950er Jahren begann die systematische Erforschung dieses Moleküls, und der Name Inositol setzte sich in wissenschaftlichen Kreisen durch. Dachte von Scherer seinerzeit, sein Inosit sei ein Zuckermolekül, wissen wir seit den 1950er Jahren, dass es ein sechswertiger Alkohol ist, der in neun verschiedenen stereoisomeren Formen vorkommt. Ich will Sie hier nicht mit komplizierter Chemie langweilen. Es reicht, wenn Sie sich die zwei wichtigsten Formen von Inositol merken: Myo-Inositol und D-Chiro-Inositol.

Myo-Inositol ist die häufigste und biologisch aktivste Form. Es kommt in höherer Konzentration vor allen in Organen vor, die viel Glukose umsetzen, wie z. B. im Gehirn.

D-Chiro-Inositol hingegen ist die Speicherform. Diese findet man vor allem im Muskelgewebe und in den Eierstöcken. Der Körper kann je nach Bedarf zwischen verschiedenen Isomerformen wechseln.

Kurzzeitig sprach man auch vom „Vitamin B8“, allerdings musste dieser Begriff wieder verworfen werden, als sich herausgestellte, dass die Nieren Inositol in gewissem Umfang (bis ca. 4 g pro Tag) selbstständig aus Glukose herstellen können.

Auch in der gesamten belebten Natur kommt Myo-Inositol vor. Vor allem die folgenden Nahrungsmittel liefern uns diesen wichtigen Nährstoff:


  • Zitrusfrüchte, insbesondere Grapefruit
  • Bohnen
  • Nüssen
  • Eiern
  • Leber

Die endogene und exogene Bereitstellung von Inositol hat die Natur in gewissem Umfang sichergestellt, denn Inositol hat drei wichtige Funktionen im menschlichen Organismus:


  1. Bestandteil der Zellmembranen
    Jede Zellmembran enthält ca. 15 % Phosphatidyl-Inositol. In dieser Form sorgt es für die Stabilisierung der Membranstruktur. Instabile Membranen können für einen reduzierten Stoffaustausch und Zellkommunikation sowie einen vorzeitigen Zelltod verantwortlich sein.

  2. Signalgeber als so genannter Second Messenger
    Inositol spielt eine entscheidende Rolle in der Zellkommunikation. Als Phosphatidyl-Inositol ist es essentiell für die Signalübertragung in Zellen. Es ermöglicht die Weiterleitung und Verstärkung extrazellulärer Signale ins Zellinnere und reguliert dadurch zahlreiche zelluläre Prozesse. Denn viele Hormone, Neurotransmitter und auch Medikamente können nicht in das Zellinnere gelangen, um dort zu wirken. Sie kommunizieren über Rezeptoren, die dann mit Vermittlern (second messengers), Informationen an das Zellinnere weiterleiten. Ein entscheidender second messenger ist Inositol. Ein Mangel hat nicht nur Effekte auf die Wirksamkeit von Hormonen und Neurotransmittern, sondern auch auf die vieler Medikamente, wie z. B. Antihistaminika und Beta-Blocker.

  3. Neuroplastizität
    Im vergangenen Jahr entdeckte eine Forschungsgruppe, dass Myo-Inositol in den ersten Monaten in der Muttermilch in hoher Konzentration vorkommt, also dann wenn sich die Synapsen, also die Verbindungen im Gehirn des Neugeborenen, besonders schnell und in großen Mengen bilden. Aber auch beim Gehirn des Erwachsenen unterstützt Myo-Inositol die permanente Neuvernetzung und Reparatur von Nervenzellen.

Heute wissen wir, dass die körpereigene Produktion und die Aufnahme über die Nahrung in vielen Fällen, insbesondere bei chronischen Erkrankungen und in der Rekonvaleszenz, nicht ausreicht. Immer dann, wenn Gewebe zerstört wird und neu aufgebaut werden muss (neue Zellmembranen!), steigt unser Bedarf an Inositol. Auch bei Einschränkungen der Nierenfunktion mit zunehmendem Alter steigt der Bedarf an exogenem Inositol.


Darüber hinaus spielt es eine wichtige Rolle in der Therapie von Erkrankungen, wie PCOS (Polyzystisches Ovarialsyndrom), Insulinresistenz und vielen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Ich setze Inositol schon seit vielen Jahren in meiner Praxis ein und werde in den nächsten News ausführlicher zu den wichtigsten Einsatzmöglichkeiten schreiben.


Quellen:

Kinoshita T. Towards a thorough understanding of mammalian glycosylphosphatidylinositol-anchored protein biosynthesis. Glycobiology. 2024 Aug 12:cwae061. doi: 10.1093/glycob/cwae061. Epub ahead of print. PMID: 39129667.

Paquette AF, Carbone BE, Vogel S, Israel E, Maria SD, Patil NP, Sah S, Chowdhury D, Kondratiuk I, Labhart B, Morrow AL, Phillips SC, Kuang C, Hondmann D, Pandey N, Biederer T. The human milk component myo-inositol promotes neuronal connectivity. Proc Natl Acad Sci U S A. 2023 Jul 25;120(30):e2221413120. doi: 10.1073/pnas.2221413120. Epub 2023 Jul 11. PMID: 37433002; PMCID: PMC10374161.

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/144996/Wie-Muttermilch-die-Hirnentwicklung-foerdert


Über die Autorin:


"Kyra Kauffmann, Jahrgang 1971, Mutter zweier kleiner Söhne, Volkswirtin, seit 20 Jahren niedergelassene Heilpraktikerin, Buchautorin, Dozentin, Journalistin und seit 3 Jahren begeisterte Medizinstudentin.

Zur Medizin kam ich durch meine eigene schwere Erkrankung mit Anfang 30, bei der mir seinerzeit kein Arzt wirklich helfen konnte. („Ihre Werte sind alle super – es ist alles rein psychisch!“). Hilfe bekam ich von Heilpraktikern, die zunächst einmal eine wirklich gründliche Labordiagnostik durchgeführt haben, ganz nach dem Vorbild von Dr. Ulrich Strunz. Es war eine neue Welt, die sich mir eröffnete und die Erkenntnisse, haben mich sofort fasziniert (ohnehin bin ich ein Zahlen-Daten-Fakten-Fan und habe nicht umsonst das Studium der VWL gewählt). Die Begeisterung war so groß, dass ich meinen alten Beruf an den Nagel hängte und Heilpraktikerin wurde. Meine Praxis führe ich seit 20 Jahren mit großer Begeisterung und bin – natürlich - auf Labordiagnostik spezialisiert und kann so oft vielen Symptomen auf den Grund gehen. In 2 Jahren hoffentlich dann auch als Ärztin.